Leseprobe
ANFANG DER TITELSTORY: BEI SONNENAUFGANG SIND WIR ZURÜCK
AUS DEM GLEICHNAMIGEN SAMMELBAND MIT GESCHICHTEN AUS 40 JAHREN
Bei Sonnenaufgang sind wir zurück
1.
Die Luft flirrte von der Hitze. In einer Stunde würde die Sonne vom Himmel stürzen, um einer plötzlichen Finsternis und frostigen Kälte zu weichen, die selbst Steine reißen ließ. Afrika war grausam, bis zum Herzzerreißen schön, er fand keine besseren Worte dafür. Sie verstand, was er damit meinte. Tränen flossen über seine stoppelbärtigen Wangen. „Ich weiß nicht mehr, warum ich überhaupt hier bin“, sagte er mit matter Stimme. „Wenn ich wenigstens als Held sterben könnte. Von einem winzigen Einzeller als Tourist hinterrücks gemeuchelt. Abscheuliches Ende!“
„Bitte, hör auf damit. Das bringt jetzt nichts. Lies doch einfach weiter.“ Kein Italiener wurde normalerweise auf den Namen Henry getauft, denn niemand aus der Nähe von Neapel konnte ein ‚H‘ richtig aussprechen. Was dann von einem ‚Henry‘ übrigblieb, waren Namensverstümmelungen und Wortwitze, ein Leben lang. Das war das Schicksal von Henry Materazi, aus einem Dorf bei Neapel.
„Ich will doch nur, dass alles einen Sinn ergibt“, beteuerte er. „Ich ertrage es dann besser.“
„Verständlich! Aber stelle mir keine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Soll ich dir etwas vorlesen, du Italiener mit dem unaussprechlichen Namen?“
„Du meinst, deine englische Spontanübersetzung des deutschen Textes eines italienischen Autors aus meiner Heimat, die wenigstens hin und wieder einen Sinn ergibt?“ Er versuchte, zu lachen, doch das Fieber schüttelte ihn und er atmete schwer und stoßweise. Die Anfälle kamen jetzt häufiger. Sein Zustand verschlimmerte sich zusehends.
„Wenigstens spreche ich deinen Namen ordentlich aus. Also, was willst du noch in Italien?“
„Auch wahr, lies schon. Lies, Monika, bevor ich es mir anders überlege und vorher den Löffel abgebe.“
„Nicht. Bitte hör auf damit!“ Sie nahm ihm das zerlesene Taschenbuch aus den Händen, bei dem sich einige Seiten aus dem Block gelöst hatten und lose im Buch steckten. Es war die einzige Lektüre, die sie auf dieser Reise begleitete, eine Art ‚Wunderbuch‘, das sie an irgendeiner Stelle aufschlug und mit dem sie sich überall und in fast jeder Lebenssituation sofort wieder heimisch fühlte. Sie war Biologin, Wissenschaftlerin, doch für sie gab es diese Art von seltenen Büchern mit Sätzen, wie gemeißelt, voller Wahrheit und Poesie. Sie hatte ihm davon erzählt und neugierig geworden, hatte er begonnen, mit seinen bruchstückhaften Deutschkenntnissen darin zu lesen. Wenn er nicht weiterkam, half sie mit einer Übersetzung ins Englische aus. Als er schließlich immer schwächer wurde, bat er sie, ihm aus dem Buch wenigstens in englischer Sprache vorzutragen. Es schien ihr fast, als hielte ihn die Sprache, bei aller Fehlerhaftigkeit ihrer Übersetzung. Am Leben. Sie vermutete, dass es dem Umstand geschuldet war, dass ihr Lieblingsautor Erri de Luca wie er aus Neapel stammte und wie er ‚Henry‘ hieß. Henry Materazi beharrte darauf, das Wunder entstehe aus der Poesie der Worte, die höheren Wahrheiten verpflichtet seien. Sie hätte es nicht treffender ausdrücken können, kannte ihn nicht einmal richtig und kümmerte sich doch um ihn.
Die Hütten standen in der Nähe einiger hoher Mimosenbäume, die breite Schatten warfen. Jeder Windzug aus der Ebene, die von der Terrasse aus einen herrlichen Anblick bot, brachte nur fiebrig heiße Schwaden und keine Kühlung. Der kühle Baumschatten blieb ein Sehnsuchtsort. Henry hatte sie zuerst entdeckt. Sein Weitblick ... – ‚weil ich am Meer aufgewachsen bin‘, behauptete er. Er beobachtete sie mit stummem Grausen, als sie zu dritt hoch über den Mimosenbäumen kreisten und zur Ebene hinausflogen. Sie kehrten immer wieder zurück. Große schwarze Vögel, die im Vorbeifliegen flüchtige Schatten warfen. Jetzt hockten sie in der Ebene jenseits der Bäume, fast unbeweglich und schienen, zu ihnen hinüber zu starren. „Dass Gäste so geduldig am Tisch Platz nehmen können und tagelang auf ihr Essen warten, kann mir als Italiener einen großen Respekt abnötigen. Wenn ich nur nicht selbst die Mahlzeit wäre.“
Sie versuchte, seine Bemerkung, in der Wahres steckte, zu übergehen, aber die Worte hallten in ihr nach. Sie beanspruchten Raum in ihren Gedanken, und es fiel ihr schwer, zu schweigen.
„Da hocken sie, meine heiligen drei Könige sind gekommen. Kein Wunder, dass sie bei der Art, wie ich mein Leben geführt habe, etwas anders aussehen, als die ehernen Majestäten in der Bibel.“ Er verlangte nach dem Eimer, würgte endlos, wo der Körper längst nichts mehr hergab, bis er völlig entkräftet auf dem Boden zusammenbrach. Sie kroch auf das Bett, packte von hinten unter seinen Achseln hindurch, um ihn zurück auf die Matratze zu zerren. Erschreckend, wie er von stündlich dünner und schwächer wurde. Er wollte nichts trinken, fürchtete sich davor, sich sofort wieder übergeben zu müssen. Er sehnte sich, zu Atem zu kommen, die brennende Hitze in seinem Inneren abklingen zu lassen und sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Mit kalten Umschlägen versuchte sie, ihm Kühlung zu verschaffen. Seine Stimme glich nur einem Flüstern. Selbst für die Tränen hatte sein Körper nicht mehr genug Flüssigkeit. Sie erschrak und ängstigte sich, wie sie ihn so hilflos dort liegen sah. Es konnte jede Minute mit ihm vorbei sein. Sie waren sich doch erst zufällig vor einigen Tagen begegnet. Wer war sie, dass sie sich überhaupt zutraute, die Verantwortung für die letzten Stunden seines Lebens zu übernehmen? Wo nahm sie die Entschlossenheit und den Mut her? Sie benötigte Hilfe. Sofort! „Ich will noch mal zur Rezeption und nach einem Arzt fragen. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Hältst du es einen Moment allein aus?“
„Tu es. Geh nur“, ein Flüstern, seine Antwort. Ganz sicher dachte er auch daran, dass sie nicht wiederkommen könnte. In der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Der unwirkliche Klang seiner flüsterleisen Stimme: „Danke dir. Ich bin müde“, und das Bild, wie er die Augen schloss und sein Brustkorb sich wieder regelmäßig hob und senkte, begleiteten sie auf ihrem Weg nach draußen.
Er schreckte auf, als sie eintrat, fantasierte im Fieber, hielt sie im Halbdunkel des Raums für einen Geist und stieß einen kurzen Schrei aus. Sein glühender Kopf mit schweißnassen Haaren fiel wieder auf das Kopfkissen und für einen Moment verlor er jammernd über sein Elend die Kontrolle. Eilig machte sie Licht und entzündete zusätzlich eine Kerze und ein Öllämpchen, für den nicht seltenen Fall, dass der Strom ausfiele. Ihr Gewissen, dass sie ihn derart erschrecken konnte, setzte ihr noch zu, als sie ihm hastig die kühlenden feuchten Umschläge wechselte und berichtete: „Der Bus zum Flughafen kommt morgen früh schon um 5:00 Uhr. Sie schicken einen Arzt mit. Es wird alles gut, sollst sehen.“ Sein leerer Blick, als er sie fragte: „5:00 Uhr, sagtest du? Wie viele Stunden noch?“ Er wollte wissen, wie lange er durchhalten musste, doch er beendete den Satz nicht. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, zögerte kurz, erwog die Möglichkeit, zu schwindeln, ihm etwas vorzumachen. Sie verwarf den Gedanken aber aus einem Gefühl heraus ebenso rasch, wie er gekommen war. „In neun Stunden und dreißig Minuten kümmert sich ein Arzt um dich. Das schaffst du. Dann kommt der Bus, und wir fliegen nach Hause.“
Sein glasiger Blick suchte Halt in ihrem Gesicht, es schien ihr fast, als schaute er durch sie hindurch. „Danke, dass du zurückgekommen bist, Monika.“
„Ich bitte dich. Was fängt man in dieser Wüstenei sonst mit dem Abend an? Da ergreife ich doch die Gelegenheit, in Afrika einen Italiener mit einem unaussprechlichen Namen näher kennenzulernen. Dann dieses unwiderstehliche Angebot, die Nacht vor der Abreise gemeinsam zu verbringen? Wenn ich diese Geschichte zu Haus erzähle, kann ich nur gewinnen.“
Ihm gelang ein schwaches Lächeln. „Wohl wahr, meine Schöne. Leg dich auf die Couch und ruhe vor der Abreise ein wenig. Ich will versuchen, zu schlafen. Liest du mir vor? Du weißt schon, das ‚Wunderbuch‘ von meinem Namensvetter …“
Monika schlug das Buch, wie sie es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht hatte, an irgendeiner Stelle auf und las. Sofort beruhigte sie sich im poetischen Strom der Worte, war wieder ganz bei sich und schickte Henry in das Land seiner Kindheit nach Neapel.
„Bei der lauwarmen Novembersonne heute hat die ganze Gasse sich nach draußen gelehnt, Stühle auf die Straße geschoben, neben die Wäschestange und das Kohlebecken … Der Vater der Armen ist herausgekommen. Das ist die Sonne der kalten Monate, die ihre Decke über die legt, die keine haben …“(*FN* Zitat aus: Erri De Luca, Ich bin da, Roman, in der Übersetzung von Annette Kopetzki, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 2004, Seite 49*FN*)
Um drei Uhr stand sie auf, ihre restlichen Sachen zu packen. Sein Koffer stand abholbereit an der Rezeption. Sie hatte die ganze Nacht vorgelesen. Nach Stunden wechselte sie vom Englischen ins Deutsche, weil sich der Kopf verweigerte und ihr jedes Wort in fremder Sprache nur schwer über die Zunge rollte. Immer, wenn Sie versucht hatte, eine Pause einzulegen, fantasierte er in seinem fiebrigen Dämmerschlaf und bettelte, bis er wieder ihre Stimme hörte. Dies allein lindere seine Übelkeit und hielte ihm am Leben.
„Ich weiß, ich werde sterben“, fügte er theatralisch hinzu. Einmal schwach geworden, hockte in jeder Ecke des nächtlichen Raums ein Nachtgespenst. Diese ließen Bilder in ihrer Fantasie entstehen. Sie sah ihn, die Worte ihres Vortrags trinkend, wie er sich gierig an das Leben klammerte. Immer wieder tauchte sein schweißnasses Fiebergesicht aus der Dunkelheit seiner Matratzengruft auf und sie hörte, wie er sie anflehte. Als sie dann doch gegen morgen einschlief, träumte sie, dass er erstickt und vom Fieber verglüht, entstellt, von einem furchtbaren Todeskampf, leblos auf dem Bett lag. Sie schüttelte ihn, schrie ihn in ihrer Verzweiflung an. Sie versprach, alle restlichen Kapitel des Buches sofort nachzuholen und nicht eher zu ruhen, bis er es bis zur letzten Zeile gehört und alle Poesie getrunken habe. Aber er solle wieder aufwachen!Es gab einen Sprung in ihren Träumen, und sie fand sich auf dem Rollfeld des Flugplatzes wieder. Sie lief inmitten einer Gruppe vorwiegend europäische Passagiere auf das Flugzeug zu, dass sie gleich ausfliegen sollte, als zwei Männer in Uniform an der Gangway erschienen. Sie wurde aus der Gruppe herausgewunken. Einer der Männer zeigte ihr ein Foto des toten Materazi. „Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne“, antwortete sie und wusste zugleich, es würde etwas Schreckliches geschehen. „Sie hätten lesen sollen, dann hätte er überlebt …“, warf ihr einer der Männer vor.
„Wie können Sie so etwas nur sagen?“, entgegnete sie zornig und versuchte, sich vorbei zu drängen. Es musste ihr gelingen, ins Flugzeug zu gelangen. Dort würde sie in Sicherheit sein, dachte sie noch, als man ihr bereits die Handschellen anlegte und sie abführte.
2.
Jemand fasste sie an die Schulter und weckte sie sanft. Der Arzt war gekommen, ein Inder, mit einem schwarzen Assistenten, der die lederne Arzttasche trug. Der Rezeptionist informierte sie, dass der Bus zum Flughafen eine Viertelstunde warten würde. Er blieb optimistisch und nahm das Gepäck schon mal mit zum Verladen. Sie war froh, dass der Albtraum gleich ein Ende finden würde. Materazi schrie auf, als ihm der Arzt mit der Faust grob auf dem Bauch herumdrückte. Sofort setzte sein Brechreiz wieder ein. Er würgte, röchelte, verdrehte die Augen, dass das Weiße aus den Pupillen hervortrat. Sie sprang hinzu, hielt ihm den Eimer hin, stützte ihn. „Was machen Sie da? What are you doing!“, beschwerte sie sich. Der Arzt trat lächelnd zur Seite, gab seinem Assistenten Anweisungen. Aus einer Papiertüte entnahm dieser ein halbes Dutzend weißer Pillen. Diese würgten sie Materazi hinein und achteten darauf, dass er sie bei sich behielt. Dann der Befehl, den Patienten auf den Bauch zu drehen. Monika sah die riesige Kolbenspritze aus Glas aus den Tiefen der Arzttasche emporsteigen, erkannte die Blechschatulle, in der die dicken Injektionsnadeln steckten, aus Museumsbesuchen wieder und wollte: „Halt!“, schreien. Doch mit Geschicklichkeit und Routine zog der Arzt bereits die Injektionsflüssigkeit aus der Ampulle und rammte Materazi die Nadel intramuskulär in den Hintern. Die Nadel verschwand wieder in der Blechschatulle und Monika sah eine endlose Reihe schwarzer und weißer Hinterteile vor sich, in die sich die Nadel wie eine Nähmaschine versenken würde. Bei dem Gedanken, dass sich Henry vielleicht mit Aids angesteckt haben könnte, begann sie zu zittern. Der Arzt sah sie von der Seite an: „Are you okay?“ Der Assistent hielt die Kolbenspritze noch in der Hand. Rasch entgegnete Monika: „I’m fine. Alles in Ordnung. Bus is waiting!“ Gemeinsam schleiften sie Materazi, der keinen Schritt mehr gehen konnte, bis zum Parkplatz und legten ihn quer über zwei Bussitze. Monika fragte, ob der Arzt nicht mitkäme. Dies wurde von ihm schlicht verneint. Wie zur Entschuldigung erklärte er: „Ein Virus. Bad water, you know. Be careful.“ Als Monika einstieg, hörte sie, wie im Gespräch zwischen Arzt und Rezeptionist das Wort ‚Quarantäne‘ fiel. Sie erschrak, fürchtete, nicht mehr weg zu kommen und atmete auf, als der Bus auf der Straße zum Flughafen beschleunigte.
Die Maschine wartete auf dem Rollfeld. Bis zum Abfertigungsschalter half der Busfahrer. Dann kam sie allein mit dem Schwerkranken nicht mehr weiter. Die Stewardessen riefen das Sicherheitspersonal und dieses nach einem Arzt. Der Check-in begann und die Passagiere verließen das Flughafengebäude. Monika beobachtete, wie sie über das Rollfeld auf die Maschine zuliefen. Noch immer fühlte sie sich für Henry verantwortlich, bat mehrfach am Schalter darum, dass der Kapitän mit dem Start warten möge. Sie versicherte, dass sie gleich zusteigen würden, da Mister Materazi von einem Arzt behandelt worden sei und sich sein Zustand in wenigen Minuten stabilisieren würde. Monika beschwor ein Wunder. Papiere über eine Versicherung für den Rücktransport im Krankenfall legte sie vor. Henry hatte vorgesorgt. Draußen hörte sie die Triebwerke aufheulen. Es musste alles rasend schnell gehen. „Einsteigen, sofort!“, forderten Stewardess und der Mann vom Sicherheitspersonal. „Nicht transportfähig“, bescheinigte der hinzugerufene Mediziner Materazi, dessen fiebriger Blick am Glas der Scheiben klebte, hinter der in unerreichbarer Ferne das Flugzeug stand. Erneut schnappte Monika etwas von Virus und Quarantäne auf. Der Blick des Arztes kam einem Todesurteil gleich. Indem ihre Angst Überhand gewann, nahm ihr die Entscheidung ab. Sie schrie es heraus: „Please stop him! I take this plane. Ich muss mitfliegen, sofort!“ Reflexartig strich sie Henry über die schweißnassen Haare, warf ihm ihr zerfleddertes Lieblingsbuch von Erri de Luca in den Schoß und rannte, was ihre Beine hergaben, auf das Flugzeug zu. Man legte für sie noch einmal die Gangway an, öffnete die Tür und strafte sie mit vorwurfsvollen Blicken und hässlichen Kommentaren, bis sie sich auf ihren Sitz verkrochen und unsichtbar gemacht hatte. Monika fühlte sich gerettet und verloren zugleich.
3.
Spätestens am dritten Tag eines jeden Parisaufenthaltes ging sie zu den Bouquinisten ans Ufer der Seine. Ohne sie wäre Paris nicht ihr Paris, ob die ‚libraires forains‘ von der UNESCO noch den Status eines Weltkulturerbes zugesprochen bekämen oder nicht. Einen halben Tag ließ sich Monika an den 240 Ständen der fliegenden Buchhändler treiben und stöberte in den Auslagen. Wahrscheinlich war die Zeit vorbei, in der man hier eine wertvolle Erstausgabe, handsigniert von Balzac und Baudelaires Fleurs du Mal mit persönlicher Widmung entdecken konnte. Dennoch blieb das Ufer der Seine für Monika ein Ort der Überraschungen, der Träume und der Emotionen, die allein schon aus dem Glück unverhoffter Leseerlebnisse erwuchsen. Im Grunde hatte sie vor vielen Jahren bei den Bouquinisten erst Französisch sprechen gelernt.
Monika entdeckte das Buch in einem Pappkarton. Es steckte inmitten von Ramschware, die neben einem Stapel nicht einsortierter Neuzugänge bislang unbeachtet geblieben war. Sie schloss nicht aus, dass die Bücher im Karton, die sich allesamt in einem schlechten Zustand befanden, vielleicht sogar ihrer Entsorgung harrten. Mit zittrigen Händen zog sie das Taschenbuch aus dem Karton hervor, um es zu prüfen. Es wies neue Gebrauchsspuren auf. Sein schlechter Zustand ließ sich bei den angebotenen antiquarischen Büchern schlichtweg nur mit dem Wort inakzeptabel beschreiben. Im losen Block fehlten mittlerweile Seiten vollständig. Der Umschlag hinten war eingerissen und im Mittelteil wies das Papier hässliche Flecken auf, die Blutflecken ähnelten. Es gab neue handschriftliche Anmerkungen, die Monika nicht entziffern konnte. Mit Stift wurde unleserlich an den Rand gekritzelt. Unterstreichungen, mit unsicherer Hand ausgeführt, ragten bis in die Buchstabenfelder hinein. Aber, ohne Zweifel, dies war ihr ‚Wunderbuch‘! Ihr Erri de Luca, Ich bin da, den sie da in Händen hielt. Das Exemplar, aus dem sie Henry Materazi in Afrika vorgelesen hatte!
Sie schlug es auf und las: „Oben auf dem Waschplatz spielt der Wind im Dezember den Camorristen, er fegt den Staub über den Boden, poliert die Nacht am Himmel, nimmt sich die Wärme aus den Häusern mit. Der Bumeran ist ungestüm, er verbrennt die Luft, die seinen Flug aufhält, meine Arme beherrschen ihn nicht mehr, er ist ein Flügel mit Federn. … An die Brüstung gelehnt, unter dem Schutz der Decke eng nebeneinander auf dem Boden sitzend, verbringen wir unsere Zeit, Komplizen des Windes, der seine Scherze mit den leeren Leinen der Wäschestangen und den Antennen der Fernseher treibt. Er pfeift darauf herum, findet unser Versteck und gibt uns einen Stoß, nur damit wir noch enger zusammenrücken …“(*FN* Zitat, aus: Erri de Lucca. Ich bin da, Roman, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 2005, Seite 79-80; in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki*FN*)
Sofort umfing sie die Wärme der Sprache wieder. Monika hätte am liebsten mit dem Roman auf der Kaimauer an der Seine gesessen und stundenlang gelesen. Sie beruhigte sich wieder ein wenig. Doch der Schock saß tief. Gedanklich spielte Monika alle Möglichkeiten durch. Es handelte sich um ihr Buch, das von Afrika zu den Bouquinisten an die Seine gelangt war! Hatte Henry das Fieber überlebt? Hielt er sich in Paris auf?
Monika erinnerte sich daran, wie sie, kaum dass sie nach Deutschland zurückgekehrt war, sich nach ihm erkundigt hatte. Natürlich erhielt sie über sein Schicksal keine offizielle Auskunft. Nach Tagen erfuhr sie wenigstens von der Quarantäne, die in Afrika über das Gebiet verhängt worden war. Monika sorgte sich. Der Gedanke, dass sie ihn im Stich gelassen hatte, um ihr eigenes Leben zu retten, setzte ihr zu und ließ sie schlecht schlafen. Sie erwog, in den Süden zu fahren, nach Angehörigen und seiner Familie zu suchen. In ihren Reiseunterlagen fand sie sogar einen Zettel mit einer Adresse. Doch ihr fehlte der Mut.
Am Institut gerieten ihre neurologischen Forschungsprojekte in eine Krise. Der Durchbruch bei zwei großen Vorhaben ließ auf sich warten. Die Kapitalgeber fragten nach der Marktreife möglicher Therapieansätze und kürzten ihre finanziellen Beteiligungen. Projektphasen wurden vorgezogen, die Zeitschiene halbiert, Arbeitsabläufe rationalisiert. Es wurde rund um die Uhr gearbeitet. Ein Fünftel des Personals musste entlassen werden. Monika, in leitender Position in dieses Chaos verstrickt, kam ihr Privatleben abhanden. Sie fand keine Zeit mehr, sich nach Henry Materazi zu erkundigen. Doch ihr Unterbewusstsein signalisierte ihr, dass die widrigen Umstände eine willkommene Entschuldigung dafür boten, seiner Todesnachricht aus dem Weg zu gehen.
Nach einem Vierteljahr rief die Reisegesellschaft, bei der sie ihre Auslandsreisen buchte, im Institut an, um ihr die Kontaktdaten von einem Ehepaar zu geben, dass unmittelbar nach Aufhebung der Quarantäne aus diesem Teil Afrikas wieder zurückgekehrt sei. Vielleicht hätte sie Interesse, von jenen Näheres über deren Beobachtungen zu erfahren. Monika kam es vor, als erwachte sie aus einer Schockstarre. Sie verabredete sofort ein Treffen und fuhr nach Düsseldorf, wo sie von Herrn und Frau Stein, zwei Weltenbummlern, aufs herzlichste empfangen wurde. Die beiden waren in Afrika während ihrer Quarantäne an dem Virus erkrankt, schilderten die Zustände auf den Krankenstationen und berichteten von vielen Toten. Ja, es habe auch Tote unter den Ausländern gegeben, wenngleich für diese die Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung nicht mit der gleichen Härte griffen, wie für die Afrikaner. Sie hatten im Krankenhaus von Materazi gehört, einem Süditaliener, der als einer der ersten Ausländer auf der Krankenstation in Quarantäne gelandet war. Bei ihrer Entlassung hatten sie erfahren, dass man einen Italiener auf die Intensivstation verlegt hatte. Niemand gab ihm noch eine Chance. Die Behandlung mit den antiviralen Mitteln hatte bei ihm zu einem Nierenversagen geführt. Vor ihrer Abreise aus Afrika sei ein Team französischer Ärzte ohne Grenzen angekommen, die Medikamente gebracht und sich aktiv an der Bekämpfung des Virus und der Behandlung von Patienten im Krankenhaus beteiligten hätten. Doch das Düsseldorfer Ehepaar schloss mit der Vermutung, dass diese Hilfen für den Süditaliener mit Nierenversagen zu spät gekommen seien.
Mit der Gewissheit, von Henrys Tod erfahren zu haben, war Monika wieder nach Hause gefahren. Sie hatte um ihn getrauert, sich selbst ein wenig bemitleidet. Häufig träumte sie von der schrecklichen letzten Nacht in Afrika und von der Flughalle. Langsam hatte sie damit begonnen, sich mit dem Umstand seines Todes abzufinden und das Kapitel für sich abzuschließen. Sie sprach mit Freunden über ihre Trauer, nahm sogar bei einer Traumatherapeutin einige Termine wahr.
Jetzt hielt sie ihr afrikanisches ‚Wunderbuch‘ von Erri de Luca wieder in den Händen! Was hatte das zu bedeuten? War dies ein Zeichen, dass Henry Materazi lebte? Hielt er sich etwa sogar in Paris auf? Das Herz schlug Monika aufgeregt bis in den Hals. (... Fortsetzung ... im Buch)